Perspektivwechsel: Ist das so?

Dinge sind nicht immer so wie sie scheinen

Die Frau lehnt am Fenster und sieht hinüber. Als sie sich gerade abwenden will, erscheint ein Mann am gegenüberliegenden Fenster und winkt ihr zu. Sie nickt und bleibt am Fenster stehen. Der Mann nickt ihr erneut zu. Dann verschwindet er für einen Moment und kommt mit einem Schal und einem Hut zurück. Er lächelt und beginnt, mit einem weißen Taschentuch zu winken. Dann löst er seinen Schal, einen großen bunten Schal, winkt damit und lehnt sich weit aus dem Fenster. Zunehmend begeistert er sich und sein Verhalten wird immer seltsamer. So seltsam, dass die Frau schließlich die Polizei ruft.
Es stellt sich heraus: In der Wohnung über der Frau steht ein Kind am Fenster. Es winkt dem Mann lachend zu, und die ganze fröhliche Aufmerksamkeit des Mannes ist auf das Kind gerichtet. Der Mann hat dem Kind ein "Fenstertheater" vorgespielt.


Ilse Aichingers "Fenstertheater" von 1949 bringt es auf den Punkt: Die Dinge sind oft nicht so wie sie scheinen. Oft sehen wir nicht das große Ganze. Und doch haben wir das Gefühl, die Situation voll erfasst zu haben. Oft urteilen wir vorschnell und bilden uns in Sekundenschnelle Meinungen über Situationen, Nachbarn, Geschichten - auch wenn der Kontext fehlt.
All das geschieht schnell und automatisch und ohne unser bewusstes Zutun.

 
Fenster, bezugnehmend auf die Kurzgeschichte "Fenstertheater"
 


Kognitive Denkfehler: Warum wir nicht immer den rationalen Durchblick haben

Wir handeln eben nicht so rational, wie wir denken. Unser Gehirn neigt zu einer gewissen Fehleranfälligkeit und dazu, in Denkfallen zu tappen.


Daniel Kahneman beschreibt unser Denken bildlich anhand von zwei interagierenden Systemen: System 1 arbeitet automatisch, schnell und unbewusst, ohne willentliches Zutun. Denken im Autopilot-Modus sozusagen; es macht den größten Teil unseres Handels aus. System 2 beschreibt das langsame, willentliche Denken, das mit Konzentration verbunden ist und das wir aktiv einsetzen, beispielsweise beim Lösen einer Mathematikaufgabe. Es springt erst an, wenn wir aktiv nachdenken oder wenn uns etwas nicht stimmig erscheint. System 2 arbeitet präziser, aber es verbraucht deutlich mehr Energie. Es wäre daher nicht möglich, nur mit System 2 zu agieren.


Die Zusammenarbeit beider Systemen ist ziemlich effizient. Die Bewältigung unseres Alltags ist nur möglich, weil System 1 mit seiner energiesparenderen Vorgehensweise einen großen Teil erledigt. Für routinemäßige Aufgaben brauchen wir daher nicht besonders viel Energie. Doch Systems 1 ist anfällig für kognitive Trugschlüsse und Verzerrungen - und so unauffällig die Denkfallen daherkommen, so leicht tappen wir hinein.


Die kognitiven Täuschungen kann man sich ähnlich vorstellen wie optische Täuschungen, nur eben bezogen auf unser Denken. Und beide sind schwer zu verhindern. Denn selbst wenn wir eine optische Täuschung kennen (zwei Pfeile sehen unterschiedlich lang aus, obwohl sie gleich lang sind), so sehen wir die Pfeile weiterhin verzerrt, d.h. mit unterschiedlichen Längen. Und so ist es bei kognitiven Denkfallen auch.


Was wir tun können, ist zu lernen, welche Situationen zu Fehlern führen können, um uns dann bewusst darauf einzustellen.


Perspektiven wechseln: Eine andere Sichtweise einnehmen

Diese zwei Bilder …

2 unterschiedliche Perspektiven: St. Peter Ording bei schönem Wetter
 

… wurden am selben Ort und zur selben Zeit aufgenommen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass die Kamera bei dem einen Bild nach links und bei dem anderen nach rechts gerichtet war.

Sank Peter Ording mit dunklen Wolken am Himmel

Wenn wir die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten, finden wir oft eine neue Situation vor. Deshalb können unterschiedliche Perspektiven zu einem besseren Verständnis führen. Und je besser wir verstehen, desto besser können wir handeln.


Weniger Interpretieren

"Was ist der bester Rat, den Sie jemandem geben würden?", fragte die Müllerin (my dear friend) ihren Manager. Seine Antwort:

"Never assume

“Niemals einfach davon ausgehen”. Ein weiser Reminder dafür, umsichtiger zu sein und weniger voreilige Schlüsse zu ziehen. Weniger zu interpretieren und unvoreingenommen an Situationen heranzugehen. Denn voreilige Schlussfolgerungen können unproduktiv sein, nerven und Dinge verkomplizieren. Es kann uns abhalten, etwas zu unternehmen, wenn wir bereits davon ausgehen, dass unser Plan sowieso nicht aufgehen wird. Es kann uns schlechte Laune verursachen, weil wir die Reaktion von Mitmenschen schon im Geiste diskutieren, bevor wir überhaupt mit jemanden gesprochen haben. Die banale Frage, die wir uns deshalb ruhig öfter stellen können, lautet schlicht:

“Ist das so?”


Erinnern wir uns an den bekannten Satz "Die Ampel ist grün." Er kann ziemlich unterschiedlich interpretiert werden, je nachdem, welche Perspektive wir gerade einnehmen: Manchmal verstehen wir ihn schlicht als aufmerksame Information "Die Ampel ist grün geworden", manchmal als Anweisung "Fahr los!". Er kann als Botschaft aufgefasst werden "Da hat es jemand eilig" oder als Indikation schlechter Erziehung "Alter, zu blöd zum Autofahren?!"


Analog: Angenommen, ein Kollege hat etwas gesagt, das dich verärgert hat. Hat er wirklich so gesagt, wie du denkst, dass er es gesagt hat? Hat er es wirklich böse gemeint? Hat er wirklich komisch geschaut? Oder hatte er nur Kopfschmerzen oder Streit mit seinem Chef?

Verwerten statt bewerten

Szenenwechsel. Nehmen wir an, eine neue Aufgabe erscheint langweilig. Oder der Mann neben uns im Schulungsseminar wirkt arrogant. ... Ist das so? 
Wie wäre es, zur Abwechslung abzuwarten und sich auf die Dinge einzulassen? Wenn wir davon ausgehen, dass etwas uninteressant ist, werden wir in der Regel recht behalten (self-fulfilling prophecy). Wir würden jede Menge "Beweise" finden, die diese Einschätzung stützen. Aber was passiert, wenn wir diesmal folgenden Perspektivwechsel vornehmen: "In dieser Sitzung, Aufgabe, Kollege wird schon irgendetwas Interessantes stecken."


Verwerten statt Bewerten nennt Moderatorin Carmen Thomas dieses Motto. Sich bewusst nicht dem ersten ablehnenden Impuls hingeben, sondern neugierig prüfen, was man aus einer vermeintlich suboptimalen Situation noch recyceln kann.


Sie berichtet von dem Badezimmerbeispiel: Innerhalb eines Interviews fragte sie einen älteren Mann, was ihn begeistere. Die Antwort fiel schmal aus: “Sein Badezimmer”. Die Moderatorin versuchte es weiter: “Wie es denn aussehen würde?” - "Weiß" kam als Antwort.


Thomas unterdrückte ihren Reflex, das Gespräch zu beenden, besann sich auf “Verwerten statt Bewerten” und transformierte Irritation in Neugier. Es musste doch einen Grund für seine seltsame Sicht der Dinge geben!

Und tatsächlich - es stellte sich heraus, dass der Mann seit 68 Jahren im gleichen alten Mietshaus lebte. Erst vor drei Monaten war in seiner Wohnung erstmalig ein neues Badezimmer eingebaut worden. Das erste eigene Bad in seinem Leben! Bis vor drei Monaten gab es nur eine gammelige Gemeinschaftstoilette im Hausflur …


Fazit?

Kein Fazit.
Wir wissen das ja eigentlich. Aber unser Gehirn tappt eben nicht nur in Denkfallen, sondern ist auch nicht gut darin, sich Dinge zu merken. Also braucht es von Zeit zu Zeit einen (Perspektivwechsel-)Reminder. Einfach mal objektiv bleiben. Einfach mal weniger (gedanklich) kommentieren. Einfach mal verwerten statt bewerten.

Reminder erledigt. Bitteschön ;)

Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön!
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.

Matthias Claudius (Der Mond ist aufgegangen)

Bonus - Ein Tool für Reflexion und Perspektivwechsel

Andere Menschen verhalten sich oft komisch? Dann findest du mit diesem Tool eine Möglichkeit, deine Einschätzung zu reflektieren und deine Perspektive zu wechseln. Mit vier Fragen kannst du vier unterschiedliche Sichtweisen einnehmen und gelangst möglicherweise zu einem sehr persönlichen AHA-Effekt.

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