Wie wir unsere Werte reflektieren …
… und die (nervigen) Eigenschaften anderer besser einordnen können
Stellen wir uns vor, wir treffen auf fünf spezielle Zeitgenossen:
Einer ist von ihnen ist ein Geizhals. Nach einem hervorragenden Restaurantbesuch rundet er die Rechnung von 48,90 mit Trinkgeld auf 49,00 Euro auf. Ein zweiter ist s-e-e-h-r langsam bei allem was er tut. Der Dritte ist laut und ein Angeber. Der vierte drängelt sich bei jeder Gelegenheit vor. Der fünfte ist ein Schleimer.
Wahrscheinlich wären wir wenig begeistert, uns in dieser Truppe wiederzufinden. Und wahrscheinlich würden uns mindestens neun von zehn Mitmenschen zustimmen.
Was uns wirklich nervt …
Soweit so normal, so scheint es. Doch irgendetwas ist anders. Vier dieser Zeitgenossen finden wir zwar unangenehm, doch sobald sie den Raum verlassen, haben wir sie quasi schon vergessen. Doch die fünfte Personen macht uns wahnsinnig: Selbst nachdem sie über eine halbe Stunde verschwunden ist, sind wir gedanklich immer noch mit ihr beschäftigt. Sie nervt uns richtig!
Was ist hier anders?
Vielleicht ist die Antwort hier zu finden. Drei Experten beschreiben es so:
”Alles, was dich mehr als 15 Sekunden beschäftigt, sind deine eigenen unerledigten Geschäfte.” zitiert Vera F. Birkenbihl die Psychiaterin Elisabeth Kübler-Ross in einem Video auf Youtube.
„Alles, was uns an anderen irritiert, kann uns zu einem tieferen Verständnis von uns selbst führen.“ C.G. Jung, Psychiater.
"Wenn ein Mensch auf etwas in seiner Umgebung reagiert, findet im Körper ein 90 Sekunden dauernder chemischer Prozess statt; danach ist jede emotionale Reaktion eine Entscheidung.” Jill Boyle Taylor, Neurowissenschaftlerin.
Huiuiui.
Das Wertequadrat
Eine Methode, mit der sich die unterschiedlichen Dimensionen von Werten und persönlichen Eigenschaften verdeutlichen lassen, liegt in der Anwendung des Wertequadrats, einem Konzept aus der Psychologie und Kommunikation. Es wurde 1989 von Schulz von Thun entwickelt und basiert auf den Erkenntnissen von N. Hartmann (1926) und Paul Helbig (1967).
Die philosophische Grundlage jedoch geht viel weiter zurück, auf Aristoteles. Er beschrieb vor über 2000 Jahren, dass eine Tugend in der Mitte zwischen zwei fehlerhaften Extremen liegt, zwischen Mangel und Überfluss. Die Tugend “Mut” beispielsweise, liegt zwischen den beiden Extremen der Tollkühnheit und der Feigheit. Der Feige rennt aus Angst davon, während der Tollkühne eine Gefahr komplett ignoriert.
Laut Aristoteles gilt es nun, die goldene Mitte, die Balance (= die Tugend) zu finden. Jemand, der die Tugend “Mut” besitzt, ist sich einer Gefahr bewusst, aber stellt sich ihr.
Das Idee des Wertequadrats besteht nun darin, zu einer Eigenschaft vier unterschiedliche Sichtweisen einzunehmen - und nicht selten gelangt man damit zu einem sehr persönlichen AHA-Moment.
Das Vorgehen:
Es gilt vier Fragen zu beantworten. Schreib alles auf, was dir als Antwort in den Sinn kommt. Und achte im speziell auf diejenigen Wörter oder Formulierungen, bei denen du selbst “ins Stutzen” kommst.
Zu zweit funktioniert das übrigens auch, oft sogar besser, weil der andere von aussen einfacher die Reaktion des anderen erkennt.
Stell Dir eine Person vor, die dich wirklich aufregt. Welche Eigenschaft/en stören dich an ihr? Welcher Teil des Verhaltens ist es, der dich so irre macht? Beschreib es.
Welche Eigenschaft(en) sollte(n) diese Person deiner Meinung nach stattdessen an den Tag legen? Wie sollte diese Person idealerweise sein und sich verhalten? Was würdest du dir wünschen?
Was wären die Nachteile der gewünschten Eigenschaft (aus Frage 2), wenn sie zu sehr ins Extrem gehen würde, d.h. wenn die gewünschte Eigenschaft viel zu stark ausgeprägt wäre?
Schauen wir uns jetzt jetzt noch einmal die ungeliebte Eigenschaft aus Frage 1 an. Was sind die positiven Aspekte dieser Eigenschaft? Was sind die Vorteile, die diese Eigenschaft mit sich bringt?
Wertequadrat: Die Gegensätze werden gegenübergestellt, d.h. Die Fragen 1 und 2 stehen sich im Quadrat diagonal gegenüber, genau wie die Fragen 3 und 4 (siehe Skizze).
Und, Perspektivwechsel gelungen?
Was passiert während dieser kleinen Übung? Es wird ein ordentlicher Schluck Objektivität in unser Wahrnehmungsfeld gegossen. Die Übung lenkt uns durch verschiedene Perspektivwechsel und lässt uns erkennen: Auch “schlechte” Eigenschaften haben einen positiven Aspekt und umgekehrt. Diese Relativierung führt dann oft dazu, den eigenen Groll ein bisschen abzutauen. Der breitere Blickwinkel macht ruhiger, milder und empathischer. Es ist eben nicht alles schwarz-weiss, und die Medaille hat zwei Seiten.
Yin und Yang - Zwei Pole einer Sache
Durch die Fragen des Wertequadrats wird deutlich: Unsere Welt ist von Gegensätzen geprägt. Im Taoismus wird die Theorie der beiden entgegengesetzten Pole als Yin und Yang bezeichnet. Beide Pole zusammen bilden ein Ganzes. Die beiden schwarzen und weißen Punkte zeigen an, dass in jedem Guten etwas Schlechtes und in jedem Schlechten etwas Gutes steckt. ☯️
Yin und Yang beschreiben daher genau das, was wir bei der Beantwortung der obigen Fragen beobachten können, und was auch schon Aristoteles erkannt hat: Es kommt auf die Balance zwischen den Polen, zwischen den Extremen an. Auf die goldene Mitte. Auf das Gleichgewicht.
Großzügigkeit zum Beispiel ist eine so genannte “positive” Eigenschaft. Wenn sie jedoch zu extrem ausgeprägt ist, kann sie ihre positive Bedeutung verlieren und in Verschwendungssucht münden. Ähnlich scheint Geiz negativ zu sein, aber auch Geiz hat auch einen positiven Aspekt, nämlich den der Sparsamkeit. Ein wenig "Geiz" kann also erstrebenswerter zu sein als "übermäßige Großzügigkeit".
Exkurs
Gilt das immer? Versuchen wir es mit einem anderen Wert: Zu dem Wert “Fairness” bzw. Gerechtigkeit wollte mir im ersten Moment kein negativer Aspekt einfallen. Kann man etwa “zu fair, zu gerecht” sein?
Auf dem zweiten Blick dämmerte es: Das extreme Ende von Gerechtigkeit könnte beispielsweise Selbstgerechtigkeit und Rechthaberei sein. Auch könnte ein zu hoher “Gerechtigkeitswahn“ dazu führen, seine Handlungsfähigkeit zu verlieren, - schliesslich wäre man nur noch am Abwägen, was richtig und was falsch ist.
Aha-Momente: Just to think about ...
Manchmal - und das ist besonders spannend! - lässt uns die Übung des Wertequadrats eine Art Rückkopplungseffekt entdecken. Dann erahnen wir leise den Grund, warum gerade diese spezielle Sache uns so dermassen aufregt, während es andere Verhaltensweisen ganz offensichtlich nicht in diesem Ausmaß tun.
Wenn uns der Wichtigtuer auf die Palme bringt… weil er sich eben seeehr wichtig nimmt: Vielleicht liegt es daran, dass wir uns im tiefsten Inneren selbst gerne wichtiger nehmen würden, uns das aber nicht ein- oder zugestehen?
Oder es regt uns auf, dass es sich jemand zu leicht macht?
Vielleicht würden wir das unbewusst auch gerne tun? Nehmen wir möglicherweise vieles zu schwer, zu kompliziert und ahnen, dass das nicht die beste Lösung ist?
Oder jemand ist zu langsam? Muss der sich nicht anstrengen? Wo wir uns doch auch immer anstrengen (müssen), weil wir uns sonst nicht für gut genug halten?
Oder dieser Amateur, der den Mund so voll nimmt … Der traut sich ja was! denken wir. Ja, ist es vielleicht genau das? Würden wir uns vielleicht auch gerne etwas trauen, tun es aber nicht? … und nun kommt so ein Heini daher und macht das einfach?
So what? Erkenntnisse
Es tut uns gut, öfter mal die Perspektive zu wechseln und das Wertequadrat hilft uns dabei. Wenn wir merken, dass uns das Verhalten anderer stresst - dann helfen uns die vier Fragen, einen anderen Blick auf die Dinge zu bekommen. Das Wertequadrat bringt uns dazu, gedanklich einen Schritt zur Seite zu gehen und Distanz einzunehmen. Es lässt uns verstehen, dass jede Eigenschaft ihre Vor- und Nachteile hat. Nichts ist ohne sein Gegenteil.
Wir können eigene Muster erkennen, wenn wir beispielsweise reflektieren, was bestimmte Eigenschaften anderer bei uns auslösen. Spiegelt das, was uns beim anderen so nervt möglicherweise die eigenen Baustellen wider? Reflektiert das nervenaufreibende Verhalten des anderen vielleicht Eigenschaftsaspekte, die wir im Grunde selber gerne hätten oder uns nicht zugestehen? Wer beim Beantworten der Fragen 1-4 an irgendeiner Stelle ins “Stutzen” kommt … Nachtigall, ick hör dir trapsen ;)
Und: Das Wertequadrat hilft, entspannter mit den eigenen Schwächen umzugehen. Es hat ja schliesslich alles auch sein Gutes!
Und noch besser: Ein entspannter, gnädiger Umgang mit den eigenen Schwächen führt meist auch zu mehr Gelassenheit im Umgang mit den Schwächen von anderen. Und das bedeutet im best case: Uns allen gelingt ein insgesamt entspannteres, friedvolles Miteinander.
What a world that would be!
♡♡♡
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