Gemeinsam besser: Wie wir mit Abstand klarer sehen

Wie wir den Distanz-Effekt für uns nutzen können und warum wir andere für unsere Entwicklung brauchen.

Gute Tage, schlechte Tage

Ally hatte einen schlechten Tag. Ich hatte einen guten. Ally und ich waren gerade in einer ähnlichen Phase und uns beschäftigten ähnliche Themen.


An Allys schlechtem Tag sprachen wir miteinander. Was konnte ich tun? Zuhören und versuchen, etwas von dem selbst gemachten Druck zu nehmen. Und an das zu erinnern, woran wir beide glaubten.


Am nächsten Tag schrieb sie: Es geht wieder besser: Der innere Ärger hatte sich nach dem Gespräch verflüchtigt und zusätzlicher Schlaf tat sein Übriges.


Kurz darauf hatte ich einen schlechten Tag. Ich telefonierte mit Ally. Und diesmal verlief es genau umgekehrt. Sie sagte mir, was ich ihr das letzte Mal gesagt hatte. (Und was wir uns schon vorher gemeinsam erschlossen hatten.) Und es funktionierte, der Unmut verschwand. Und wenig später, nach einem Powernap (ich schwöre auf Powernap, absolutely!) war ich wieder ziemlich die Alte.


Crazy, denke ich. Jemand sagt dir, was du schon weißt. Warum gelingt es uns nicht, uns diese Dinge einfach selbst zu sagen? Warum können wir Situationen bei anderen klar erkennen, und rutschen bei uns selbst regelmässig in die Affenfalle?

Die Affenfalle

Es gibt es eine spezielle Methode, Affen zu fangen, indem man ein kleines Loch in eine Kokosnuss bohrt. Die Kokosnuss wird an einen Baum gebunden und dann werden dort Früchte hineingelegt. Der neugierige Affe greift zu. Doch das Loch ist zu klein für eine Faust, und der Affe kann sie nicht herausziehen, während er seine Beute festhält. Jetzt sitzt er in der Falle. Er müsste einfach nur die Frucht loslassen, dann wäre er wieder frei. Aber er lässt die Frucht nicht los und bleibt in der Falle.


Ist das nicht irre? Und noch irrer: Sind wir oft nicht genauso gefangen? Zum Beispiel in unseren Vorstellungen darüber, wie etwas sein sollte? In unseren Zielen, Erwartungen, Selbstbildern, Ansprüchen? Oft klammern wir uns an unnütze Gedanken und können sie einfach nicht loslassen.

Warum ist das so? Warum können wir die Lösung nicht erkennen?


Ich glaube, ein Schlüssel liegt in der Distanz.

Distance matters

Oft sehen wir Dinge aus der Ferne besser als aus der Nähe. Das ist wie beim Fernsehen: Wenn wir mit der Nase direkt am Bildschirm kleben, erkennen wir kaum etwas. Doch sitzen wir im angemessenen Abstand vor der Glotze, ergibt sich ein klares Bild.


Dabei geht es nicht nur um die räumliche, sondern auch um zeitliche und emotionale Distanz. Auch das ist wie beim Fernsehen: Manchmal verstehen wir einen Film eben erst im Nachhinein - und nicht, während wir ihn uns anschauen.


Manchmal befinden wir uns einfach nicht im richtigen Blickwinkel. Wenn wir keinen räumlichen, zeitlichen oder emotionalen Abstand zu einem Ereignis haben, können wir das große Ganze nicht erkennen.


Es ist so, wie wenn wir von einer Lawine oder einem Sturm überrascht werden: Im ersten Moment verstehen wir nicht, was mit uns geschieht. Wir werden durchgeschüttelt, ohne zu wissen, warum. Ein Beobachter aus der Ferne versteht das Dilemma sofort (mit räumlichen Abstand). Wir selbst können es erst im Nachhinein verstehen (mit zeitlichem Abstand).


Ebenso können wir Probleme bei anderen oft leichter und schneller erkennen als diese selbst. Aus unserer Perspektive, d.h. mit der entsprechendem (emotionalem) Distanz zu den Problemen des anderen, liegen die Dinge glasklar auf der Hand. Doch selbst wenn wir bei anderen des Pudels Kern erkennen, gelingt uns das gleiche Kunststück nicht bei uns selbst: Uns fehlt die Distanz.

You cannot see the bottom of the pot when the water is boiling.


Wenn wir diesen Distanz-Mechanismus erkennen, können wir ihn für uns zweifach nutzen:

Zum ersten: Wir können vom Tun der anderen lernen, indem wir die Reaktionen unserer Mitmenschen bewusst beobachten.


Ereignisse und Herausforderungen, die wir bei anderen beobachten, können wir so für unsere eigene Reflexion nutzen. Mit dem nötigen Abstand und weil wir emotional nicht involviert sind, können wir fremde Situationen für uns gelassen reflektieren, und darüber nachdenken, was hier ganz nüchtern betrachtet zu tun wäre.


Wie würden wir entscheiden? Wie könnte man die Dinge nüchtern und besonnen regeln? Was gäbe es für Alternativen? Stehen wir uns vielleicht ähnlich selbst im Weg?

Diese Art der Reflexion hat ausserdem noch einen Nebeneffekt: Wir werden empathischer und haben mehr Verständnis für andere.
Denn wir erkennen: Auch wenn Situationen anderer für uns ganz offensichtlich sind und glasklar erscheinen: Jemand, der mittendrin ist, kann sie manchmal einfach nicht sehen.


Zum zweiten: Wir können uns durch eine zweite Person zu mehr Distanz verschaffen.

Eine Person von aussen - ein Coach, ein Mentor oder eine Freundin - bringt Objektivität und Distanz in die Dinge und damit Schwung in festgefahrene Situationen.

Möglicherweise könnten wir es alleine. Aber oft geht es gemeinsam eben schneller und leichter - einfach einfacher.


Und das bringt uns zu folgender Geschichte.

Das Land der langen Löffel

Ein Mann der viel gereist war berichtet von einer Reise, die sich ihm tief eingebrannt hatte: Die Reise ins Land der langen Löffel. Es war ein kleines Land und es bestand nur aus einem Gang mit zwei Zimmern. Der Mann besuchte zunächst das linke Zimmer und ihm bot sich ein trauriger Anblick. Um einen riesigen Tisch herum sassen viele Menschen, die ganz offensichtlich großen Hunger litten. Ihr Tisch war reich gedeckt und es fanden sich die leckersten Speisen direkt von ihren Augen. Alle besaßen einen Löffel - doch der entscheidende Punkt war, dass die Löffel an ihren Händen befestigt waren und doppelt so lang waren wie ihre Arme. Jeder konnte sich von den Speisen bedienen, doch es gelang ihnen nicht, ihre Löffel zum Mund zu führen. Und so mussten alle Menschen in diesem Raum trotz des Überflusses an Nahrung Hunger leiden.


Erschrocken verließ der Mann die bedrückende Situation. Was für ein hoffnungslos deprimierender Anblick! Er ging über den Flur in das andere Zimmer. Und was er dort sah, verschlug ihm die Sprache: Um einen grossen Tisch saßen ebenso viele Menschen wie im vorherigen Zimmer. Der Tisch war ähnlich üppig mit Speisen gedeckt und auch hier hatten alle Menschen lange Löffel an ihren Händen.


Und doch gab es einen gravierenden Unterschied: Die Menschen fütterten sich gegenseitig. Sie kamen nicht an ihren eigenen Mund heran, aber an den Mund der anderen. Und so wurden sie alle satt und waren fröhlich.

(Nacherzählt aus: Komm, ich erzähl dir eine Geschichte von Jorge Bucay)

Conclusion - so what?

Vielleicht ist unsere Welt genauso angelegt: Jeder hilft jedem.
Jeder hat gute Tage und jeder hat schlechte Tage. An schlechten Tagen brauchen wir Hilfe. An guten Tagen können wir Hilfe geben. Heute lernen wir etwas von jemandem, der dies schon gelernt hat. Und morgen können wir das Gelernte an jemanden weitergeben, dem dieses Puzzleteil noch fehlt.
Und damit webt sich ein funktionierendes System.

Ist es wirklich so einfach? Tja, gute Frage.


Der erste notwendige Schritt dazu ist, zumindest für viele von uns, gar nicht so einfach: die Hosen runterlassen. Hilfe annehmen. Oder noch krasser: um Hilfe bitten.

Sich einzugestehen, dass man ein Problem (Herausforderung ;) hat, ist für so manchen so attraktiv wie ein Besuch beim Zahnarzt. Und doch: Um das Wohlbefinden zu verbessern, hilft es in beiden Fällen, den Mund aufzumachen. Nur dann können wir mitteilen, wo uns der Schuh drückt - und nur dann haben wir eine Chance, dass uns schnell geholfen wird.

Und, by the way: Worin besteht eigentlich das Risiko?


Frei nach Barbara Sher: Die Welt ist kein DIY (do-it-yourself) Projekt. Wir müssen nicht alles alleine schaffen. Der Mensch ein “problem-solving-animal”, ein soziales Wesen. Menschen wollen helfen. Wie wäre es also damit, sich das Leben leichter zu machen, indem wir Dinge gemeinsam meistern?


Und ein letztes: G e d u l d , please.


Wir Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir haben bestimmte Verhaltensweisen (über Jahrzehnte) akribisch erlernt und verfallen deshalb mit schöner Regelmäßigkeit in diese erlernten Affenfallenmuster. Sogar dann, wenn wir sie vermeintlich durchschaut haben!
Das wiederum ist besonders nervenaufreibend: Wir hadern dann mit uns selbst und merken gar nicht, dass wir schon wieder in die nächste Falle getappt sind.


Und doch: Irgendwann (mit Abstand!) stellen wir fest, dass wir mit der Zeit immer seltener in die Affenfalle greifen - und immer häufiger loslassen.

♡♡♡

Daring greatly means the courage to be vulnerable. It means to show up and be seen.
To ask for what you need.
To talk about how you're feeling.
(Brené Brown)


P.S.
Dear Ally! Wir wissen beide, du heisst nicht Ally. Aber soviel künstlerische Freiheit darf eben sein! ;) Auf all unsere weiteren Erkenntnisse! What a journey!

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