Na, erlaube mal!
Wann hast du das letzte Mal während der Arbeit für zwei Minuten aus dem Fenster geschaut und dich gefreut?
Was ist das für eine Frage!?
Ist das nicht was für Freaks, die wenig von Produktivität halten?
Einfach mal zwei Minuten inne zu halten, kommt uns sonderbar und wenig einträglich vor. Das Interessante an diesem Gedanken ist allerdings: Im umgekehrten Fall verschwenden wir keinerlei Überlegungen an Produktivität und Sinnhaftigkeit. Wenn wir uns ärgern, dann dauert das oft gut und gerne deutlich mehr als zwei Minuten. Wir grummeln oder verstricken uns in Gedankenspiralen und nicht selten schnappen wir uns einen Kollegen, um unseren Unmut zu platzieren. All das ist selten produktiv oder konstruktiv oder hilfreich für irgendjemanden. Aber dafür ist es normal.
Ups.
Ich habe es neulich getan (gefensterlt) und mir dabei heilig vorgenommen, es öfter zu tun. Wenn Dinge gut laufen, beispielsweise. Zu schnell werden kleine Erfolge einfach weggewischt, um sich wieder den drängelnden (und vielleicht gar nicht vorhandenen) Problemen zuzuwenden. Was nur, wenn plötzlich ein Sack Reis umfällt?
Kleine Erfolge - und manchmal auch größere - nehmen wir ja oft nicht so wichtig. Und DA ist er: Der Aha-Moment! Wenn wir unsere Erfolge und schönen Momente nicht wichtig nehmen, - ist das vielleicht ein Indiz dafür, dass wir uns selbst nicht wirklich wichtig nehmen?
Der Wichtigtuer
Um diese These zu überprüfen, hier eine Frage: Gibt es in deiner Umgebung einen Wichtigtuer, der dich regelmässig rasend macht? Der dich innerlich ausflippen lässt, weil er sich so unglaublich wichtig nimmt? Weil der sich ganz schön was erlaubt?!
C.G. Jung würde bei dieser Gelegenheit auf unsere Schatten verweisen. Seiner Annahme nach haben wir alle einen Schatten, was bedeutet: Jeder von uns hat bestimmte Eigenheiten, die er sich nicht zu- oder eingesteht. Und diese unterdrückten Seiten und Eigenschaften projizieren wir dann (unbewusst) auf unser Umfeld.
Wenn uns ein Wichtigtuer also nachhaltig nervt, weil er sich so wichtig nimmt, dann lautet die Checkfrage an uns: Wie wichtig nehmen wir uns eigentlich selbst?
Schauen wir uns das Ganze ein bisschen detaillierter an … und fragen uns:
Gönn ich mir die Ruhe, die ich eigentlich bräuchte und gerne hätte? Die Muße, den Raum, die Zeit? Erlaube ich mir, einen Gang zurückzuschalten? Oder ist etwas anderes gerade wichtiger (als ich)?
Erlaube ich mir, etwas Cooles, Tolles, Schönes oder Verrücktes zu tun oder zu kaufen, auf das ich wirklich Lust habe (das aber VIEL zu unvernünftig erscheint)?
Erlaube ich mir, einen langweiligen Termin einfach abzusagen? Nein zu sagen zu Dingen, die ich nicht (mehr) möchte? Oder sind die Gefühle und Pläne von anderen wichtiger (als ich)?
Kann ich ein Lob annehmen? Oder sage ich: “Och, das ist doch nicht der Rede wert.” (=“Das ist doch nicht so wichtig”)?
Erlaube ich mir, meine Flopps und Fehler zu verzeihen?
Erlaube ich mir, eine Sache einfach mal (“nur”) gut zu machen, und es dann gut sein zu lassen?
Gönn ich mir den gleichen guten Rat, den ich einer Freundin geben würde? Oder bin ich strenger zu mir selbst? Habe ich unterschiedliche Maßstäbe?
Gönnen wir uns die gleiche Portion an Wohlwollen, Güte und Zuversicht, die wir anderen gönnen, mit denen wir es gut meinen?
Helfen lassen
Stellen wir uns vor, wir fahren mit der Bahn und können weder Geld noch Fahrkarte finden, als der Schaffner plötzlich vor uns steht. Und stellen wir uns vor, eine fremde Frau würde uns anbieten, unser Ticket zu bezahlen und es uns zu schenken.
Könnten wir dieses Geschenk annehmen? Oder würde es uns ebenso schwer fallen wie der Frau, von der Karin Kuschik in ihrem Buch “50 Sätze” berichtet: Dort erzählt die Autorin von einer Begegnung mit einer Fremden, die offensichtlich Hilfe (eine Fahrkarte) braucht, sich aber äußerst schwer tut, diese von ihr anzunehmen.
Ebenso meinte eine Kollegin neulich, dass sie sich kaum dazu durchringen könne, fremde Nachbarn um etwas wie Eier oder Mehl zu bitten. Im umgekehrten Fall allerdings würde sie liebend gerne aushelfen. Das zustimmende Gemurmel weiterer Anwesender liess darauf schliessen: Das geht erstaunlich vielen so. Bloss niemandem zur Last fallen!
Anderen tun wir gerne einen Gefallen - und das lässt uns gut fühlen. Doch drehen wir diese Sichtweise einmal um: Wenn wir uns nicht helfen lassen - heißt das nicht auch, dass wir anderen damit die Möglichkeit nehmen, Gutes zu tun und sich damit gut fühlen zu dürfen?
Die nächste Checkfrage lautet also: Wie gut sind wir in der Lage, schöne Dinge anzunehmen, die uns begegnen: Komplimente, Geschenke, Hilfe?
Falls wir ahnen, dass wir uns hier nicht ganz leicht tun, haben wir womöglich ein weiteres Indiz für unsere suboptimale Einschätzung der eigenen Wichtigkeit gefunden. Und gleichzeitig entdecken wir etwas Spannendes: Wenn wir uns (unbewusst) selbst nicht wichtig nehmen, uns nichts gönnen oder zugestehen oder erlauben, dann bedeutet das ebenfalls: Andere können uns nicht helfen. Denn selbst wenn sie es täten (wenn uns andere beispielsweise Aufmerksamkeit, Beistand, Aufmunterung, ein Zugticket geben), dann würden wir es ja gar nicht annehmen.
Da sind wir wohl erstmal selbst am Zug.
Wo befinde ich mich auf der bipolaren Skala?
Es scheint, als haben wir manchmal unser gutes Gefühl für das rechte Maß verlernt. Wir schwanken von einem Extrem ins andere: Bin ich faul, nur weil ich mal nicht fleissig bin? Bin ich egoistisch, wenn ich mich nicht mehr aufopfern will? Wo liegt das richtige Verhältnis?
Schon Aristoteles weist auf die Balance als Mittel der Wahl für ein guten Leben hin. Genauer spricht er von Tugenden, die es langfristig anzustreben gilt - und beschreibt die Tugend als goldene Mitte zwischen zwei extremen Eigenschaften.
Zur besseren Anschauung erweist sich die Zuhilfenahme einer bipolaren Skala, die man öfter in Fragebögen findet. Auf dieser Skala befindet sich das Normalmaß in der Mitte. Positive oder negative Werte beschreiben entsprechend die extremen Ausprägungen.
Ein Beispiel: Ein Workaholic, der am Rande des Burnouts steht, befindet sich am äußersten Ende der Arbeitsbelastungsskala. Wenn er nun sein Arbeitspensum um 5 Schritte in Richtung Mitte der Skala reduziert (und dann bei einem Wert von +5 liegt), wäre er immer noch nicht faul. Tatsächlich läge sein Arbeitspensum immer noch in einem Extrem, nur erkennt er das nicht, weil er eine verzerrte Wahrnehmung hat.
Natürlich wäre der Workaholic nach der Reduktion von 5 Skalenpunkten weniger (arbeits-)belastet als zuvor, - doch insgesamt wäre er immer noch nicht in seiner Balance. Er hätte die goldene Mitte noch nicht erreicht.
Fragen wir uns also selbst:
Auf welcher Skala stehen wir gerade WO?
So what?
Wenn wir beschliessen, uns zukünftig selbst etwas wichtiger zu nehmen, dann lautet die Leitfrage für die nächsten Wochen:
“Was würde eine Person tun, die gut mit sich umgeht?”
Und dann starten wir stückchenweise und ohne falsche Hektik. Schritt für Schritt üben wir uns im Annehmen, im Kennenlernen von uns selbst, im Schätzen-lernen unserer Eigenschaften, im Akzeptieren unserer Schwächen und Schatten.
Und dann schreiben wir uns mindestens einen Postit-Reminder fürs Badezimmer, Laptop oder den Kühlschrank oder wir schnitzen einen Schlüsselanhänger mit folgenden Worten:
“Wer sich selbst wichtig nimmt, braucht sich nicht mehr wichtig machen” fällt mir in diesem Zusammenhang (von Ernst Ferstl) ein. Dieses Zitat kann man spitzfindig finden, doch gleichzeitig ist es ermutigend: Wenn wir uns selbst ernst nehmen, dann tragen wir unseren inneren Groll ab und haben schliesslich gar nicht mehr so sehr das Bedürfnis, dass andere uns wichtig nehmen. Wir sind es dann einfach.
Wenn wir mit uns im Reinen sind, im Frieden, - wenn wir zuFrieden sind, dann können uns andere sowieso wenig anhaben.
Also, erlauben wir uns einfach mal was.
Erlaube wir uns, uns selbst als VIP zu behandeln. Very important eben.
Und so könnte das aussehen:
”Ich erlaube mir … großzügig zu mir selbst, entspannt und glücklich zu sein. Auf meine Bedürfnisse zu hören, Hilfe anzunehmen und mein eigenes Tempo zu gehen. Auf mich selbst, das Leben und das Universum zu vertrauen. Ich erlaube mir, ich selbst zu sein und mein Leben zu leben. Ich bin meine eigene beste Freundin.”
Und vielleicht schauen wir dabei aus dem Fenster - und freuen uns über uns selbst. ♡
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