Die Vorteile der anderen

Ein Perspektivwechsel

Was sind die Vorteile eines Psychopathen? Oder anders formuliert: Wie profitierst du persönlich von der Tatsache, dass es Psychopathen gibt?


Okay, die Frage ist überspitzt, natürlich, doch nehmen wir sie mal so hin, um das Prinzip zu verdeutlichen. Und machen uns folgende Gedanken:

Große Unternehmen, so heisst es, werden oft von Personen mit gewissen psychopathischen Grundzügen geleitet. Nicht selten finden wir dort diejenigen Mitmenschen, die sich selbst überschätzen, wenig Angst haben und riskante Manöver fahren.
Und ja, wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das doch schlüssig - denn so eine Verantwortung kann ja nun wirklich nicht jeder aushalten. Da oben gibt es schließlich nicht nur sonnige Zeiten, in denen man wichtig in Meetings oder der Business Class sitzt. Genauso gibt es Phasen, in denen eine ganze Menge Druck herrscht: Müssen Arbeitsplätze abgebaut werden? Was, wenn millionenschwere Inventionen nicht funktionieren oder existenzielle Konventionalstrafen drohen? Wenn man für kriminelles Handeln von anderen gerade stehen oder unpopuläre Entscheidungen treffen muss? Das sind Aufgaben, um die sich nun wirklich nicht jeder reisst.


Doch brauchen wir überhaupt große Firmen und ihre Lenker? Vielleicht brauchen wir sie irgendwann nicht mehr. Doch in unserer derzeitigen Welt stellt sich die Frage kaum, denn wo kämen sonst unsere Arbeitsplätze her? Unsere Kühlschränke? Und wie funktioniert ein Staat?
Und was haben eigentlich andere Berufe für Anforderungen an die Persönlichkeit, damit die Berufenen ihren Beruf ausführen können, ohne dabei verrückt zu werden? Und wie stünden wir persönlich da, wenn es diese Berufe gar nicht gäbe?


Wer würde sich schon trauen
, in ein brennendes Haus zu stürmen, um fremde Menschen zu retten? Und wen hätten wir im Falle eines Falles gerne als unseren Retter? Bevorzugen wir dann den Achtsamen, der erst wertschätzend allerlei Befindlichkeiten klärt - oder würden wir denjenigen wählen, der unerschrocken, schnell und klar Entscheidungen trifft, macht und reingeht?


Und möchten wir einen sich selbst verwirklichenden Anästhesisten, der fröhlich optimistische Annahmen während der OP trifft? Einen Brückenkonstrukteur, dem Statik-Vorgaben zu eng und langweilig sind?
Wie sieht es aus mit Zahnärzten, Kanalarbeitern, Therapeuten, Gefängniswärtern, Richtern, Kassenwarten?


Je nach Perspektive sagen wir: DAS könnte ich nicht! Und stimmt ja auch, für die meisten Jobs sind wir wahrscheinlich nicht geschaffen. Auch sehen wir oft nur die eine Seite - Geld, Ruhm oder sonstige Vorteile, die eine Sache mit sich bringt, ohne eben die Kehrseite zu betrachten. Klar hätten wir gerne einen Olympiatitel, aber bitte ohne diesen Trainingsstress.


Ein Landschaftsgärtner erzählte neulich, er könne sich gar nicht vorstellen, den ganzen Tag in einem Büro sitzen. Das irritiert, zumindest aus Sicht eines Bürofuzzis (moi). Der nämlich kann es sich gar nicht vorstellen, den ganzen Tag nicht in einem Büro zu sitzen, um dafür beispielsweise in einem gekachelten Raum ohne Tageslicht Gehirne zu operieren. Genauso wie eine Krankenschwester sich wahrscheinlich nicht im Tunnelbau sieht oder der Gerüstbauer auf die Idee käme, Burnout Patienten Yoga beizubringen.


Und das bringt uns doch ziemlich schnell zu folgendem Schluss: Wie gut, dass wir alle so unterschiedlich sind! Denn was wäre, wenn jeder nur Flugzeuge fliegen, Haare schneiden oder Gallen operieren wollte! Wenn es niemanden gäbe, der für unsere Sneaker, Müsliriegel und Kinofilme sorgt…


Jeder Jeck ist eben anders. Und genau deswegen funktioniert doch unsere Welt mit all den Annehmlichkeiten. Weil jeder seine Stärken und Besonderheiten einbringt, dienen alle allen - und alle profitieren. Nur so funktioniert es, dass wir in einem Bett schlafen, telefonieren und eine Toilette nutzen können - oder im Supermarkt die Wahl zwischen Obst, Saft und Socken haben. Wäre doch ganz schön zäh, wenn wir das alles selber machen müssten.

In der einen Situation hilft es eben, dass der eine besser reden, und in der anderen, dass der andere besser zuhören kann. Mal ist eben der Disziplinierte gefragt, mal der Kreative. Mal der Schnelle, mal der Entspannte. It simply depends.


Wie logisch erscheint es da nur, dass wir eben auch die andere Seite der Medaille mitgeliefert bekommen. Der detailverliebte Gehirnchirurg ist eben auch als Nachbar pingelig und der Regisseur von nebenan bleibt eben auch am Vormittag exzentrisch.

Was bist denn du für´n Typ?

Einmal habe ich den Link für einen Myers-Briggs-Test in eine Runde von Kollegen geschickt. Dabei handelt es sich um einen Persönlichkeitstest: Man bekommt ein paar Fragen gestellt und wird am Ende einem bestimmten Persönlichkeitstyp zugeordnet.


Und so sieht er aus: Der MBTI (Myers-Briggs Type Indicator) basiert auf der Klassifizierung von 4 Ebenen (oder "Eigenschaftspaaren"), von denen die meisten Menschen auf jeder Ebene entweder in die eine oder andere Ausprägung fallen:

1: (E) Entrovertiert oder (I) Introvertiert: Diese Unterscheidung kennen die meisten. Extovertierte sind eher gesellig und erhalten Energie aus dem Kontakt mit anderen. Intovertierte hingegen laden ihre Batterien am besten “leise” auf. Sie mögen gerne Ruhe und Zeit für sich selbst.

2. (S) Sensorisch oder (I) Intuitiv: Wie nehme ich die Welt war? Bin ich eher faktenbezogen und schaue auf Details oder bin ich abstrakt und gehe nach dem Bauchgefühl und nach dem Big Picture?

3. (T) Thinking oder (F) Feeling: Wie treffe ich Entscheidungen? Die “Denker” gehen nüchtern und logikbasiert vor. Die Feeler sind sensibel, auf Harmonie bedacht und beziehen die Konsequenzen für andere in ihre Entscheidungen ein.

4. (J) Judging oder (P) Percieving: Wie organisiert bin ich? Bin ich Typ Liste oder Typ Sponti? Diejenigen der (J)-Gruppe sind organisiert und haben meist ein gutes Zeitmanagement. Sie sind Listen-Fans, entscheiden schnell, wollen Dinge zum Abschluss bringen. Typ Sponti (P) ist eben das Gegenteil: Flexibel, anpassungsfähig, spontan, aber oft mit der Angst, etwas zu verpassen (was sie davon abhalten kann, Dinge zum Abschluss zu bringen).


Verständnis für sich und andere

Unabhängig davon, ob man an solche Tests glaubt oder ob das Ergebnis immer passend war: Die interessante Folge war, dass der Test die interne Diskussion ankurbelte. Was für ein Typ bist du? Wie äussert sich das? Bist du auch so? Bei mir ist das ganz anders, denn …
Der Test hat damit seinen Zweck erfüllt: Was blieb war mehr Offenheit, mehr Interesse und mehr Verständnis für sich und für andere.


Generell geben Persönlichkeitstests eine gute Struktur vor, an der wir uns entlang hangeln können, gerade wenn wir einen Zugang in das Thema Selbstreflexion suchen. Es geht nicht darum, sich in eine Schublade stecken zu lassen, sondern es geht um einen Einstieg, - einen Gesprächseinstieg. Solche Tests erhöhen das Verständnis, dass es einfach bestimmte Typen und Eigenschaftsausprägungen gibt und dass es eben vollkommen normal ist, wenn der andere nicht immer so denkt und agiert wie ich. Dass es normal ist, unterschiedlich zu ticken, und unterschiedliche Stärken und Macken zu haben.

So what?

Worum soll es hier also gehen: Ein kleines Plädoyer für den Perspektivwechsel und für weniger Krampf im Umgang mit uns und unseren Mitmenschen. Alles hat eben zwei Seiten - und jede Eigenschaft seine Vor- und Nachteile. Zu viel Sonne ergibt die Wüste, no rain no flowers. Gäbe es keine Pingeligen, Kreativen, Ordnungsliebenden, Inspirierenden hätten wir wohl eine ziemlich blasse, unfunktionale Welt. Der Vorsichtige würde kein Projekt anfangen, der ideenreiche Chaot keines zu Ende bringen.

Was aber, wenn die beiden sich zusammentun?

Und wie könnten wir ohne andere überhaupt etwas lernen? Wir haben heute einen unerschöpflichen Zugriff auf unerschöpfliche Wissensschätze: Teakwondo, C#, Geige, Quantenphysik, … Bis hin zur Selbsterkenntnis erschliesst sich unser Wissen nur durch andere. Autorin Barbara Sher bringt es deswegen so wunderbar treffend auf den Punkt:

The World is not a DIY-Project.

☆☆☆



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