Genug
Klopapiermanie
Liam hat eine Klopapiermanie. Er hat Angst, dass ihm das Klopapier ausgehen könnte und er irgendwann zu wenig davon hat - und deswegen besitzt er nun ein Lager. Es fing eigentlich ganz harmlos an: Früher hatte er meistens ein oder zwei Packungen im Haus, eine angebrochene und manchmal eine zweite als Reserve. Doch Covid verschärfte sein Sicherheitsbedürfnis und dann stockte er auf. Er bevorratete nun 5 zusätzliche dieser großen 10er-Pakete. Und später kam ihm dann immer dieser Gedanke, wenn er einkaufen ging: “Ach, kann ja nichts schaden, noch eine Packung mitzunehmen. Sicher ist sicher.”
Irgendwann funktionierte er einen Teil seines Arbeitszimmers in ein Klopapierlager um. So genau hat er seine Vorräte nicht gezählt, aber vermutlich besitzt er an die 50 Groß-Packungen. Und weil er es sich diesen Gedanken angewöhnt hat “Kann ja nix schaden, nochmal was mitzunehmen”, werden es eher mehr, zumindest nicht weniger.
Ob es Liam wirklich gibt? Fraglich, aber in grün gibt es ihn sicherlich. Soll heissen: Wenn wir von Dingen zu viel haben, dass sie uns eher belasten als beglücken, dann ist das doch im Grunde das Gleiche in grün: Klopapierhorten in grün eben.
Für den einen sind es Ikeakerzen. Für den anderen Glühbirnen (zur Sicherheit, falls mal alle Glühbirnen auf einmal ausfallen). Für viele ist es der Kleiderschrank. Kann ja nix schaden, wenn wir das alte Nachthemd noch aufbewahren, vielleicht brauchen wir es noch!
Doch es ist immer das gleiche Prinzip: Der Grenznutzen nimmt ab.
Der Grenznutzen
Der Grenznutzen bezeichnet in der Wirtschaftswissenschaft den zusätzlichen Nutzen von einer zusätzlichen Einheit eines Gutes. Zur Erklärung ein Beispiel:
Nehmen wir an, du bist an einem Strand. Es ist ein abgelegener Strand, der dich zum Nacktbaden animiert, doch als du wieder aus dem Wasser kommst, stellst du fest, dass deine Sachen fehlen. Unschön, denkst du, denn inzwischen tummeln sich immer mehr Menschen in deiner Umgebung. Gerade hat ein mobiler Caféstand eröffnet. Alle Kaffeetrinkenden sind natürlich angezogen und beobachten dich interessiert.
Die Frage: Wie groß wäre jetzt der Nutzen einer T-Shirt-Hosen-Kombination für dich? Ich behaupte: Ziemlich gross. Hättest du deine Kreditkarte zur Hand und käme ein Shirt-Verkäufer um die Ecke, dann würdest du sicherlich nicht besonders knausern mit der Ausgabe für dein neues Outfit - selbst wenn es sich nicht um deine Lieblingsfarbe handelt, unvorteilhaft sitzt oder mit einem lustigen Spruch bedruckt wäre, der gar nicht lustig ist.
Du kannst ja mal überlegen, ab welchem Betrag du das T-Shirt NICHT kaufen würdest.
Also, ob am Strand oder generell: Ein erstes Kleidungsset hat einen ziemlich großen Nutzen für uns. Auch die zweite Garnitur brächte uns einen großen, zusätzlichen Nutzen, denn damit können wir die Klamotten wechseln und die andere Garnitur waschen. Eine dritte macht ebenfalls Sinn (weiterer zusätzlicher Nutzen!), denn dann brauchen wir uns mit dem Waschen nicht zu hetzen und ausserdem können wir unseren Stil nun etwas variieren (ein Langarm-Shirt, ein wärmeres Shirt, ein farbiges Shirt). Und ja, auch eine viertes Shirt wird uns einen weiteren Nutzen bringen.
Doch der Grenznutzen nimmt ab. Und das bedeutet: Der Nutzen des ersten Kleidungsstücks war am Größten für uns, mehr als das zweite und vor allem mehr als das Vierte oder 35. nützlich für uns ist.
Doch wo liegt die Grenze, sprich, ab welcher Menge gibt es keinerlei weiteren Nutzen mehr, wenn wir neue Kleidung kaufen? Ab wann macht es keinen Unterschied, ob wir ein weiteres T-Shirt besitzen oder nicht?
Und ab wann haben zusätzliche Kleidungsstücke sogar einen negativen Effekt, sprich ab wann ist ein weiteres Kleidungsstück belastender für unser Wohlbefinden als dass es uns Freude bringt?
Die Kosten: Lebenszeit
Die Frage nach der “richtigen” Menge an Kleidung ist natürlich individuell und hängt von der persönlichen Situation ab. Jeder, der mit einem Rücksack auf dem Jakobsweg wandert, weiss, dass weniger (Kleidung im Gepäck) mehr (Spass beim Wandern) ist. Und ja, als Queen braucht man sicherlich ein bisschen mehr Auswahl an Präsentationsoutfits als ein Pilgerer.
Nun sind wir meistens weder das eine noch das andere. Doch immer gilt: Kleidung und Dinge, die wir besitzen, kosten uns etwas: Sie kosten unsere Aufmerksamkeit, Wartung, Platz - und Geld sowieso.
Viele T-Shirts brauchen viel Schrank. Viele T-Shirts und viel Schrank brauchen Zeit, um T-Shirts und Schränke auszuwählen, zu besorgen, zu organisieren, zu transportieren, instand zu halten, zu reparieren, zu reinigen, aufzuräumen, zu suchen und zu entsorgen. Haben wir nicht nur viele T-Shirts, sondern auch viele Ikeakerzen oder Klopapier geht das Spiel natürlich entsprechend weiter...
Dinge kosten also (Lebens-)Zeit. Und da die meisten von uns für ihr Geld arbeiten, kosten uns Dinge zusätzlich noch die Zeit, die wir mit Arbeit verbringen, um für ihren Anschaffungspreis aufzukommen.
”Es ist eben viel einfacher, einen 20-Euroschein aufzubewahren, als einen nicht getragenen Pullover.”
(Minimalisten-Weisheit, über das Verkaufen von Unnötigem)
Die goldene Mitte
Schon Aristoteles war der Auffassung: Balance matters.
Er drückte es anders aus, er sprach von Tugenden, die er als das rechte Maß zwischen zwei Extremen beschrieb. Eine Sache ist demnach nicht per se gut oder schlecht, es gibt nur ein zuviel oder zu wenig von etwas.
Es hängt demnach vom jeweiligen Standpunkt ab (wo stehe ich), von der individuellen Lage, in der wir uns gerade befinden (Queen oder Pilgerer). Die Dosis macht das Gift - sagen wir auch, und das bedeutet ähnliches: Die Dosis von etwas entscheidet über Wohl und Wehe; darüber, ob eine Sache hilfreich oder hinderlich für uns ist. 50 Äpfel auf einmal zu verputzen ist eben auch nicht mehr gesund, es sei denn du bist ein Braunbär.
Ist es möglicherweise genau das, worum es im Wesentlichen bei uns geht? Unsere goldene Mitte zu finden, das rechte Maß? Haben wir unseren Maßstab für dieses rechte Maß über die Zeit verloren? Haben wir verlernt, auf uns selbst zu hören?
Wir essen, obwohl wir nicht hungrig sind, wir stehen auf, obwohl wir müde sind und wir kaufen Dinge, obwohl sie uns nicht glücklicher machen.
Homo öconomicus?
Nehmen wir an, wir würden heute feststellen, dass wir ein Genug an Klamotten haben. Das hieße ja nicht, dass wir uns nie wieder etwas Neues zulegen dürften. Es bedeutet einfach, dass es jetzt genug ist, für diesen Moment. Wir könnten auch überlegen: Es ist genug für die nächsten 2 Monate - und danach bewerten wir neu.
Patty spart bei ihrem Arbeitgeber für einen Sabbatical: 3 Jahre bekommt sie weniger Gehalt, damit sie im vierten Jahr auf Weltreise gehen kann.
Nach ihrer Weltreise reduziert sie ihre Arbeitszeit auf eine 4-Tage-Woche: Sie hat während ihrer 3-jährigen Ansparphase gemerkt, dass sie auch mit weniger Geld gut auskommt. Sie merkt, sie hat auch so genug. Sie zieht ausserdem in eine etwas kleinere Wohnung (gross genug) und geniesst nun jeden Freitag ihren Frühstückskaffee im nahegelegenen Seecafe. Unbezahlbar! findet sie.
Anderen erzählt sie lachend: “Ich habe 20% meiner Arbeitszeit in 50% mehr Wochenende eingetauscht. Herrlich!”
Conclusion: So what?
Fazit first: Die Frage nach dem “Genug” kann man vermutlich nicht oft genug stellen (…finde den Fehler ;)
Wäre doch jammerschade, wenn wir schwindelig vor lauter falschem Eifer am guten Leben vorbeiradeln, mit unserem Hamsterradl.
Wie wäre es also, wenn wir uns öfter die Frage stellen: Ist unsere Kosten-Nutzen-Analyse bei diesem oder jenem Thema überhaupt in Ordnung? Ist der Nutzen einer Sache größer als ihre Kosten?
Habe ich vielleicht jetzt schon genug? Habe ich genug Handtaschen, Lifestyle, Freunde, Erfolg, Einkommen, Ansehen, Arbeit, Abenteuer, Nachrichten, Sicherheit, Vorsichtsmassnahmen?
Und als Hilfsfrage: Wann wäre ansonsten der Zeitpunkt erreicht, an dem ich genug hätte?
Die nächste Überlegung, die sich anschließt, bezieht sich dann auch nicht mehr aufs Haben, sondern aufs Sein:
Bin ich vielleicht schon ambitioniert genug? Stylisch genug? Sicher genug? Erfolgreich, ordentlich, entspannt, ausgeruht, vernünftig genug?
(read more: —> Marisa Peer: I am enough)
Natürlich geht immer noch mehr: Die Welt beherrschen, bereisen, bereichern oder zumindest retten. Es erscheint geradezu frevelhaft, all diese Möglichkeiten nicht zu nutzen.
Doch ist es nicht auch ein Frevel, Vorhandenes nicht zu geniessen?
Es einfach mal gut sein zu lassen?
Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.
♡
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