Das Leben surfen: Wie wir besonnener reagieren

“You can't stop the waves, but you can learn to surf.”
Jon Kabat Zinn


Es gibt eine Menge Menschen, die regen sich gerne auf. Oder grübeln, oder nörgeln - als gäbe es etwas zu gewinnen! Eigentlich möchten sie es auch gar nicht, sich so viel aufregen, grübeln oder nörgeln. “Doch so bin ich eben” sagen sie. “Ich kann ja nicht aus meiner Haut.”

Können sie nicht? Wie wär´s mit einer bewussten Entscheidung.

Ein Versuch, sich das Leben leichter zu machen.

Urge surfing

Wer kennt das nicht: Einen bestimmten Drang zu haben und das Gefühl, ihm nachgeben müssen? Dem Drang, zu grübeln beispielsweise, sich Sorgen zu machen oder sich zu ärgern?


Und wie gelingt es, so einem Drang zu widerstehen?


Urge Surfing beschreibt eine Technik aus der Verhaltenstherapie, mit der man ein unerwünschtes Verhalten reduzieren oder vermeiden kann. Der Psychologe Dr. Alan Marlatt entwickelte dieses Konzept ursprünglich, um Suchtkranken zu helfen.


Der Kern dieser Methode besteht darin, einen Drang zu bewältigen, ihn zu surfen. Grundlage ist die Idee, dass Verlangen und Sucht eine Welle von Gefühlen sind, die nach einem bestimmten Muster auf- und absteigen.
Die Technik des Urge Surfing besteht nun darin, zu beobachten, wie ein Verlangen stärker und schwächer wird und es quasi “auszusitzen”, bis er abklingt. Das Ziel ist es, eine größere Akzeptanz und Gelassenheit dem Drang gegenüber zu entwickeln, anstatt ihm nachzugeben oder sich von ihm überwältigen zu lassen.
Es geht also nicht darum, Gefühle zu unterdrücken oder zu “bekämpfen”.


Als Analogie können wir das Bild von Meer und Surfer nutzen: Ein Drang, Verlangen, Triebe oder Impulse sind wie Wellen. Sie nehmen zu, werden größer, erreichen ihren Höhepunkt und brechen, bevor sie wieder abebben. Beim “Drang-Surfen” geht es darum, diese Wellen zu reiten.


Welche Lehren können wir ausserdem ziehen, wenn wir im metaphorischen Bild des Meeres bleiben?


Was uns das Meer lehrt:

  • Du kannst Wellen nicht aufhalten oder stoppen

  • Du kannst dich Wellen nicht entgegenstemmen: Sie rütteln dich dann nur umso stärker durch. Trifft eine Welle auf einen Widerstand (zb. einen Fels) kommt es zu einer unkontrollierten Situation. (Im echten Leben sagen wir dann vielleicht unschöne Dinge aus dem Impuls heraus, die wir später bereuen.)

  • Du kannst eine Welle kontrolliert surfen, wenn du mir ihr, mit dem Flow gehst, und damit eine unkontrollierte Situation, die durch Widerstand entstehen, vermeidest.

  • Eine Welle ist endlich. Irgendwann ebbt sie ab. Ein Drang ist es auch. Wellen in einem Meer werden immer größer, bis sie ihren Peak erreichen, brechen und wieder abebben. Emotionen verhalten sich ähnlich: Sie sind ebenfalls in Bewegung. Und sie ebben irgendwann auch wieder ab. Und das allein ist ja schon einmal hilfreich zu wissen.

  • Surfen will gelernt sein, dafür braucht es viel Ü-ü-ü-bung. Nicht alle Wellen lassen sich surfen, aber zumindest die Machbaren.


Um die Technik des Urge Surfings anzuwenden, werden entsprechend folgende Schritte empfohlen, sobald sich ein Drang bemerkbar macht:

  • Step 1: Den Drang wahrnehmen, benennen und beobachten: Wir versetzen uns in die Beobachterrolle und betrachten uns selbst. Wir beobachten, was in uns vorgeht und beschreiben diese Gefühle und körperlichen Reaktionen. (Das Beschreiben hält uns in der Beobachterposition). Anstatt sofort zu reagieren, gewinnen wir so Raum und Zeit. Das ist wichtig: Es geht um eine nicht wertende Beschreibung dessen, was geschieht (Wir beobachten so, als wären wir eine Videokamera im Aufnahmemodus).

  • Schritt 2: Nachdem wir etwas Raum gewonnen haben, können wir eine bewusstere Entscheidung treffen: Wir können dann immer noch ausflippen und unsere Meinung sagen, allerdings werden wir es in diesem Moment wahrscheinlich schon kontrollierter tun als im Affekt ohne die vorher eingenommene Beobachterrolle. Oder wir entscheiden uns bewusst, nicht zu reagieren, weil wir merken: Ach was! Ärgern lohnt sich nicht, da kümmere ich mich lieber um meinen Hamster!


Spannend ist, dass diese Theorie mit anderen Erkenntnissen aus Bereichen wie der Hirnforschung oder dem Buddhismus in Einklang steht. Und das bedeutet: Mehrere Indizien sprechen für das gleiche Vorgehen.
Lohnenswert also, einen weiteren Blick auf diese Sache zu werfen.

Die 90-Sekunden-Regel

Jill Bolte Taylor hatte einen Schlaganfall. Sie ist Neurowissenschaftlerin und hat Jahre nach diesem Vorfall ein Buch über ihre Erkenntnisse verfasst und die 90-Sekunden-Regel beschrieben. Ihr Kernfazit: Eine menschliche emotionale Reaktion dauert ungefährt 90 Sekunden. Nach dieser emotionalen “Welle” verfügen wir Menschen über die Fähigkeit, diesen neurologischen Prozess zu regulieren. Bolte Taylor beschreibt es so: "Wenn ein Mensch auf etwas in seiner Umgebung reagiert, läuft ein chemischer Prozess ab, der etwa 90 Sekunden dauert. Jede verbleibende emotionale Reaktion ist dann eine Entscheidung des Menschen, in dieser emotionalen Schleife zu bleiben."


Das bedeutet: Der Mensch entscheidet sich, durch seine (neuen, anheizenden) Gedanken, diesen Prozess immer wieder neu anzustossen. Statt eine Gefühls-Welle 90 Sekunden oder auch wenige Minuten (wenn mehrere Emotionen im Spiel sind) einfach “durchlaufen” zu lassen, dauert das emotionale Spielchen dann manchmal Stunden oder Tage, obwohl wir es selbst in der Hand hätten, es zu unterbrechen.


Jill Bolte Taylor teilt also die gleiche Sicht: Emotionale Reaktionen müssen nicht so lange dauern, wie sie oft bei uns dauern. Wir können den Prozess “verkürzen”, indem wir ihn einfach nicht künstlich verlängern. Wenn wir unsere Emotionen bewusst wahrnehmen und wertfrei beobachten, dann wird die emotionale Welle nach kurzer Zeit abebben und insgesamt weniger lange andauern.

Sprich es aus: Affect-Labeling

Und auch die moderne Hirnforschung schlägt in die gleiche Kerbe. Sie untermauert unsere unsere Surfthese mit der Theorie des Affect-Labeling nach Matthew Lieberman (2007). Affect-Labeling bedeutet dabei schlicht, die eigenen Gefühle in Worte zu fassen.


So banal es auch klingen mag, Hirnscan-Studien haben gezeigt: Wenn wir unseren Gefühlen einen Namen geben und die Emotionen (das, was in uns vorgeht) konkret beschreiben, hat dies eine beruhigende Wirkung auf die Alarmfunktion unseres Gehirns. Die Amygdala (unser "Angstzentrum") wird durch das "in Worte fassen" herunterreguliert, der Stresspegel sinkt und es stellt sich leichte Entspannung ein.


Wenn also ein Gefühl durch Sprache zum Ausdruck gebracht wird, erleben wir eine Stresslinderung und erhöhen damit die Fähigkeit für klare Gedanken. Wir können unsere Emotionen dann besser managen.


“Puh, ich bin ganz schön wütend und merke, wie mein Puls ansteigt, wenn ich diese schrille Stimme höre” oder auch “Du hast aber ganz schon Schiss, Lara”
(Die Sache funktioniert auch, wenn wir in der 3. Person mit uns selbst sprechen.)


Es erscheint fast so, als ob die Amygdala sich beruhigt, weil sie erkennt, dass eine andere, höher entwickelte Gehirnregion das Problem erkannt hat.
Sinngemäss so:
Amygdala: “Okay, ich kann mich jetzt entspannen, die anderen wissen ja jetzt Bescheid.”

Frag nicht warum. Frag was.

Vorsicht, Stolperfalle!

Bei der Beobachtung unserer Emotionen gilt es, auf eine Falle hinzuweisen: Die Warum-Falle. In sie tappen wir, wenn wir uns zur falschen Zeit die falschen Fragen stellen. Die Psychologin und Bestsellerautorin Dr. Tasha Eurich spricht darüber in einem TED Talk.


Tasha Eurich hat in zahlreichen Studien festgestellt, dass vielen Menschen in Punkto Selbstreflexion ein Fehler unterläuft, der unglücklich macht. Das ist bedauerlich (und gut zu wissen!), denn schließlich geht es bei Selbstreflexion ja darum, durch Selbsterkenntnis die Grundlage für eine höhere Zufriedenheit zu schaffen.

Was passiert genau bzw. worüber stolpern wir?


Es kann tatsächlich destruktiv sein, wenn wir uns zu sehr auf die Frage nach dem WARUM konzentrieren. Die Warum-Frage hilft uns nämlich oft nicht weiter, weil wir uns in ihr verlieren können. Wir verbeissen uns und geraten in die Affenfalle. Und damit bringt sie uns besonders in angespannten Situationen keinen wirklichen Nutzen.


Wenn wir nach dem Warum fragen, können wir uns gedanklich aufhängen und damit das Loslassen verhindern. Statt nach vorne zu schauen, kleben wir dann in der Situation und in zweifelhaften Erklärungsversuchen fest. Gleichzeitig tun wir uns auch noch schwer, die richtigen Erklärungen zu finden, weil unser Blick durch psychologische Denkfallen verklärt wird. Beispielsweise verplausibilisiert unser Gehirn Ereignisse oft im Nachhinein, so dass wir falsche Schlüsse ziehen, die wir dann für die richtigen halten.


Tasha Eurich´s TED-Resumee lautet daher in Kurzform: “Die Frage nach dem Warum macht uns depressiv, übermütig und bringt uns auf die falsche Fährte.”


Achten wir also in Zukunft darauf, welche Fragen wir uns wann stellen und ob sie uns wirklich helfen. Besonders in emotionalen Situationen können wir einlenken, wenn wir merken, dass wir uns die Warum-Frage stellen. Dann schenken wir sie uns und wählen eine neue Frage - zum Beispiel eine Frage, die mit "Was" beginnt.

Frag dich nicht: Warum fühle ich mich so beschissen?
Frag stattdessen: “Was kann ich tun, damit es mir besser geht?”

"Wenn dein Haus brennt, ist es am dringendsten, das Feuer zu löschen - und nicht die Person zu verfolgen, die du für den Brandstifter hältst."*
(Thich Nhat Hanh)

Weisheiten

“Make it a habit to ask yourself: What’s going on inside me at this moment? That question will point you in the right direction. But don’t analyze, just watch. Focus your attention within. Feel the energy of the emotion.”
(Eckhard Tolle)


Es gibt viele (alte) Lehren, die ebenfalls die Botschaft des wertfreien Beobachtens vermitteln, wie etwa der Buddhismus oder spirituelle Lehrer. Eckhart Tolle zum Beispiel, beschreibt ausführlich, wie es gelingt, den Blick auf unsere Emotionen und unseren Körper zu richten.


Seine Anregung zur eigenen Beobachtung lautet: Wo im Körper kann ich eine Reaktion bemerken? Spüre ich einen Kloß im Hals oder ein flaues Gefühl im Magen oder eine Verspannung? Kann ich dieses Gefühl irgendwie erhaschen, irgendwie einfangen oder erspüren?
Manchmal “haben” wir es - doch dann flutscht es wieder davon. Doch selbst in diesem Fall sind wir ja bereits mittendrin in der Beobachtung.


Ärger, zum Beispiel, fühlen wir manchmal durch einen Kloß im Hals. Wenn wir diesen Kloß erspüren, dann beobachten wir ihn weiter: Wie fühlt er sich genau an und was verändert sich?


Durch Übung werden diese emotionalen Phasen irgendwann kürzer. Sie dauern dann nicht mehr so lange, und sie sind vielleicht auch nicht mehr so häufig oder nicht mehr so stark.

Und damit passt auch dieses Puzzleteil ins (Surfer-) Bild.

So what?

Wenn wir daran interessiert sind, uns das Leben zu erleichtern, hat die Sache zusätzlich einen erfreulichen Nebeneffekt: Wir machen auch anderen das Leben leichter. Denn wenn wir nicht mehr jedem Drang nachgehen “müssen” (zu klugscheissen, zu meckern, auszuflippen…), dann hat unser Umfeld definitiv auch etwas davon.


Druck erzeugt Gegendruck. Deswegen ist es ja auch so anstrengend, gegen Wellen anschwimmen. Oder einen Ball unter Wasser zu drücken. Widerstand (Emotionen zu unterdrücken) kostet eine Menge Energie, die im ungünstigsten Fall chaotisch und unkontrolliert entweicht. Je mehr es uns gelingt, Druck abzubauen, desto eher unterbrechen wir eine mögliche Abwärts-Spirale.

What you resist, persists.
Was du widerstehst, bleibt bestehen.
(C.G. Jung, Psychiater)


Wir können unsere Emotionen auf gesündere Weise managen, indem wir uns an folgenden Reminder erinnern:

  • Beobachten (und Beschreiben).
    J U S T O B S E R V E.

  • Keine Bewertung. Keine Analyse. Kein Why.
    (= Akzeptanz)

  • Üben. Üben. Üben. Und vor allem in den relativ “guten Zeiten” mit dem Üben beginnen


Und wenn wir merken, dass wir uns bereits mitten in einer Welle befinden: Dann die Welle drüber schwappen lassen. Geht auch wieder vorbei!


So ist der Lauf der Welt: Das einzig Beständige sind eben der Wandel und die Wellen des Lebensflusses. Und je mehr wir uns mit ihm (dem Leben, dem Fluss) in die Kurven legen, desto lustiger, aber auch sicherer wird die Fahrt.

Hang loose!

Panta Rhei
(Alles fliesst)
Heraklit, 540- 480 v. Chr.

Anhang:


4 Tipps, um (bei Reaktionen) “Zeit zu gewinnen” :

  1. Das neutrale Wort “interessant” nutzen: “Interessant, was hier gerade passiert!”

  2. Sich eine Formulierung zurechtlegen wie: “Ja, wie finde ich denn das?” oder “Hm, da muss ich erst mal überlegen, wie ich das finde.”

  3. Einen Schluck Wasser trinken. Oder ausatmen. Oder zählen.

  4. Die 30-Sekunden-Anti-Ärger-Strategie von Vera F. Birkenbihl anwenden: 30 Sekunden (dämlich) grinsen, sprich, die Mundwinkel nach oben ziehen. Trickst das Gehirn aus.


Quellen/Anmerkungen:

  • Buch: Leben mit Hirn, Sebastian Purps-Padigol

  • TED-Talk “Increase your self-awareness with one simple fix”), Dr. Tasha Eurich

  • Buch: Now, von Eckhart Tolle

  • Jill Bolte Taylor: 90 second rule, aus dem Buch “My Stroke of Insight”

  • Das ausführliche Zitat von Thich Nhat Hanh, einem Mönch, lautet: * “If your house is on fire, the most urgent thing to do is to go back and try to put out the fire, not to run after the person you believe to be the arsonist. If you run after the person you suspect has burned your house, your house will burn down while you are chasing him or her. That is not wise. You must go back and put out the fire. So when you are angry, if you continue to interact with or argue with the other person, if you try to punish her, you are acting exactly like someone who runs after the arsonist while everything goes up in flames.”

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