Tante Bella hat gesagt…

“Mama, Tante Bella hat gesagt, dass wir etwas für den Frieden in der Welt tun können”, sagte die Kleine.

“Ja, meine Kleine. Wir können zur Wahl gehen und die richtigen Politiker wählen”, antwortete die Mutter.

“Aber Tante Bella hat etwas anderes gemeint. Sie sagt, dass sie jeden Tag etwas dafür tut und dass jeder Mensch täglich etwas für den Frieden tun kann.”

Die Mutter schaute skeptisch. “Ach ja? Und was soll das sein?”

“Tante Bella meint, dass wir einfach netter zu uns selbst sein sollten.”

“Das klingt ganz schön egoistisch, finde ich.” Die Mutter runzelte die Stirn. Tante Bella war gar nicht ihre richtige Tante, sondern die Tante einer Freundin, die den Freundinnen bei ihren Besuchen regelmäßig Geschichten vorlas. Doch was erzählte sie da bloß?

“Tante Bella sagt, dass wir manchmal Dinge tun, die uns gar nicht gut tun.”

“Zum Beispiel, wenn ihr euer Zimmer nicht aufräumt”, stimmte die Mutter nun schmunzelnd zu.

“Nein, das doch nicht. Tante Bella sagt, wir reden oft schlecht über uns selbst.”

Die Mutter blickte erstaunt hoch... “Wie?” sagte sie nur.

“Tante Bella sagt, viele Menschen sprechen schlecht mit sich selbst. Wenn etwas nicht klappt, dann ärgern sie sich und schimpfen mit sich selbst. Und dann werden sie wütend. Und wenn sie wütend sind, werden sie auch wütend mit anderen.”

Die Mutter ließ das Wäschestück, das sie gerade aufgenommen hatte, wieder in den Korb gleiten.

“Tante Bella sagt, dass wir Groll in uns ansammeln, wenn wir schlecht über uns selbst reden. Und manchmal flutscht der Groll dann aus uns heraus und steckt andere Menschen an.”

“Hmmm…”, murmelte die Mutter.

“Tante Bella sagt, das ist eigentlich ganz einfach.”

“Was ist ganz einfach, Schatz?”

“Na, die Sache mit dem Frieden. Tante Bella sagt, Groll ist ansteckend. Wenn wir nicht schlecht mit uns selbst reden, dann sammeln wir keinen Groll. Und wenn wir keinen Groll haben, können wir andere nicht anstecken. Und andere können andere nicht anstecken. Und dann ist niemand mehr ansteckend und dann hat niemand mehr Groll.”

Die Mutter sah die Kleine mit offenem Blick an: “Und du meinst, wenn niemand Groll hat, sind alle im Frieden - und wenn alle im Frieden sind, dann gibt es ja nur noch Frieden?”

“Genau, das hat Tante Bella gesagt. Das klingt doch ganz schön logisch, oder?”

Die Mutter nickte. “Aber redest du denn schlecht mit dir selbst?” fragte sie.

“Tante Bella sagt, dass die meisten Menschen schlecht mit sich reden. Und dass sie sich nicht wichtig nehmen.”

“Man soll sich auch nicht so wichtig nehmen”, erklärte die Mutter.

“Aber Tante Bella sagt, dass es gut ist, wenn man sich wichtig nimmt. Denn alle Menschen sind gleich wichtig. Und wenn wir andere ernst nehmen sollen, dann müssen wir uns selbst doch auch ernst nehmen, oder? Wenn andere wichtig für uns sind, sind wir doch genauso wichtig."

Die Mutter überlegte einen Moment und nahm dann wieder ein Handtuch auf. "Was meinst du genau mit 'wichtig nehmen'?", fragte sie.

“Tante Bella sagt, dass viele Menschen gar nicht damit umgehen können, wenn man ihnen was Nettes sagt, wenn man ihnen Komplente macht.”

“Du meinst Komplimente.”

“Ja, Komplente. Tante Bella sagt auch, dass viele Menschen keine Hilfe annehmen können. Viele Menschen mögen es nicht, wenn sie etwas nicht alleine schaffen, weil sie dann denken, die anderen halten sie für dumm. Tante Bella sagt, viele Menschen finden es wichtiger, was andere denken. Dabei ist es doch auch wichtig, was man selbst denkt, oder?”

“Das stimmt schon…” murmelte die Mutter.

“Tante Bella sagt, dass viele Menschen sich deswegen so anstrengen, damit die anderen nichts schlechtes von ihnen denken. Weil sie die anderen eben wichtiger finden als sich selbst.”

Die Mutter dachte nach.

“Tante Bella sagt: Weil es so wichtig ist, was andere denken und weil Menschen sich deswegen so anstrengen, sind viele eben so streng mit sich und beschimpfen sich, wenn etwas nicht klappt. Du sagst doch auch oft zu dir “Marlene, du bist aber auch ein Trottel!” Zu mir sagst du das nicht.”

Die Mutter stutzte. Tatsächlich, das sage ich ganz schön oft, ging es ihr durch den Kopf.

“Tante Bella sagt, es ist eigentlich ganz einfach. Jeder soll einfach öfters etwas Nettes zu sich selbst sagen. Und sich loben.”

Die Mutter zuckte zusammen."Eigenlob stinkt" - diese Aussage hatte sie in ihrer Kindheit tausende Male gehört. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, diese Behauptung in Frage zu stellen. Doch plötzlich war sie gar nicht mehr sicher.

"Tante Bella sagt, die Erwachsenen sind ganz schön verkrampft", wurde die Mutter in ihren Gedanken unterbrochen.

Die Mutter überlegte: Ja, damit könnte sie recht haben… Wir sind wirklich ganz schön verkrampft. Ganz unvermittelt fielen der Mutter zahlreiche Beispiele ein: Die Meinung der Nachbarn, die ihr immer so wichtig war. Die Wut über das verpfuschte Dessert, das sie so gerne präsentieren wollte, und das zum Auslöser für eine Tirade von Selbstbeleidigungen wurde. Der Streit mit ihrem Mann, der - so schwante es ihr gerade - nur deswegen so ausuferte, weil sie den ganzen inneren Frust irgendwie loswerden musste.

“Mama?” erklang es leise.

“Ja, meine Kleine?”

“Keiner darf mit meiner Mama schimpfen. Auch du nicht.” Und dann klingelte es und die Kleine verschwand fröhlich lachend in Richtung Tür.

Ich habe ein tolles Kind, dachte die Mutter. Das hab ich wirklich gut hinbekommen! Und zum ersten Mal seit langer Zeit erlaubte sie sich, stolz auf sich zu sein.

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