Warum wir so gestresst sind…

… und was wir dagegen tun können


Bisher hatte Bruno nur ein paar Schnecken verspeist. Hungrig durchkämmt er die Umgebung, als er plötzlich auf einen Eindringling trifft. Angriffslustig bäumt er sich auf und schüttelt den buschigen Kopf.


Gerade noch rechtzeitig bemerkt Nando Neandertaler den angriffslustigen Bären. Reflexartig gelingt ihm die Flucht.


Zum Glück hatte Nando schon ein Stammhirn!

Flight or fight - or freeze

Unser Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen, die sich im Laufe der Evolution nacheinander entwickelt haben. Der älteste Teil (Stammhirn) ist sozusagen das Gehirn unserer Vorfahren und zuständig für lebenswichtige Funktionen wie Atmung, Herzschlag, Reflexe und Instinkte. Und es ist mit der automatischen Überlebensreaktionen des Flucht-oder-Kampf-Mechanismus (flight-or-fight) verbunden.


In bedrohlichen Situationen werden automatisch zwei grundlegende Reaktionsmuster aktiviert: Entweder unser Körper bereitet sich darauf vor, zu kämpfen (fight) oder er bereitet sich darauf vor, zu fliehen (flight).


Das bedeutet: Sobald unser Gehirn eine potenzielle Bedrohung erkennt, wird automatisch das autonome Nervensystem aktiviert und Stresshormone werden ausgeschüttet. Diese Reaktion ist nützlich, um schnell und effektiv zu reagieren.


Neben dem “Fight-or-flight”-Reflex gibt es noch eine dritte Reaktion unseres Körpers, das Erstarren (freeze). Das Erstarren kann ebenfalls im Tierreich beobachtet werden: Wenn sich ein Tier in einer ausweglosen Situation wähnt, dann stellt es sich leblos. Wenn wir Menschen in den Modus des "Erstarrens" geraten, führt dies zu einer Art "Shutdown" des Körpers, bei dem wichtige Funktionen wie Puls, Denken und Schmerzempfinden heruntergefahren werden.


Flight and fight in der heutigen Welt

Soweit so normal und nützlich. Doch nun der Haken: Beim Flight-or Fight-Mechanismus handelt es sich um ein Notfallsystem, das eben für Notfälle und nicht für den dauerhaften Gebrauch angelegt wurde. Doch der Fight-or-Flight Mechanismus springt nicht nur an, wenn ein Bär um die Ecke kommt. Er wird auch in deutlich weniger dramatischen Situationen in Gang gesetzt.

Deadlines, finanzieller Druck, Lärm, soziale Konflikte oder schlechte Nachrichten aktivieren den Überlebensmechanismus ebenso.


Bei jeder Aktivierung bereitet sich unser Körper für Flucht oder Kampf vor und zieht alle verfügbaren Ressourcen dafür zusammen. Das kann dazu führen, dass Energie von anderen Körperfunktionen wie Verdauung und Immunsystem abgezogen wird, um die bedrohliche Situation zu bewältigen. Ebenso kann unser "logisches Denken" aussetzen oder beeinträchtig werden.


Wir ahnen: Ein Notfall-System, das permanent auf Hochtouren läuft: Das ist wenig effektiv, hilfreich und gesund.


Dazu fällt auf, dass einige Menschen sehr leicht gestresst sind, während andere Menschen robuster erscheinen. Warum ist das so, warum reagieren wir so unterschiedlich sensibel auf Stressfaktoren?

Eine Antwort darauf gibt das Konzept des “Window of tolerance”.

Das Stresstoleranzfenster

Das Stresstoleranzfenster (“window of tolerance”, Dan Siegel, 90er Jahre) ist ein Konzept aus der Psychologie, das beschreibt, wieviel Stress wir bewältigen können, ohne überfordert zu sein.


Das Toleranzfenster liegt zwischen zwei Grenzen: der Untergrenze und der Obergrenze. Wenn wir uns innerhalb dieser beiden Grenzen bewegen, sind wir in der Lage, unseren Alltag zu bewältigen, gut mit Stress umzugehen, uns zu entspannen und Herausforderungen zu meistern.


Wenn die Stress-Belastung jedoch zu stark ist oder zu lange andauert, dann können wir aus dem Fenster fallen. Das Fenster wird dann nach oben überschritten oder wir purzeln nach unten heraus. Beides hat Folgen:


Wenn wir die obere Fensterschwelle überschreiten, werden wir übererregt, überfordert, wütend oder ruhelos. Unser Flucht-oder-Kampf-Mechanismus wird aktiviert.
Wenn wir nach unten aus dem Fenster fallen, sind wir entsprechend “untererregt”. Wir fühlen uns dann wie erstarrt (freeze), träge, benebelt oder “stuck”. Bei uns geht dann nicht mehr viel.


Das Stresstoleranzfenster bezieht sich also auf den optimalen Zustand unseres Nervensystems, in dem wir in der Lage sind, Herausforderungen zu bewältigen, ohne in den Fight-Flight-Freeze-Modus zu geraten. Dieser Zustand ermöglicht es uns, auf unsere Umgebung angemessen zu reagieren, klar zu denken, zu lernen, und uns zu entwickeln.

Warum bewältigen manche Menschen Stress besser als andere? 👉🏻 Weil jeder von uns ein unterschiedlich großes Toleranzfenster hat.


Einige Menschen haben ein sehr kleines Toleranzfenster, was dazu führt, dass sie sehr schnell ausserhalb ihres grünen Bereichs gelangen. Sie haben oft Schwierigkeiten, mit Herausforderungen umzugehen und sind schnell überwältigt, gestresst oder ängstlich. Oder sie geraten, wenn sie nicht mehr flüchten oder kämpfen können, in einen freeze Zustand.


Das Toleranzfenster wird in der frühen Kindheit geprägt. In dieser Phase werden bereits die Grundlagen für die persönlichen Verhaltensmuster, Stressreaktionen und Bewältigungsstrategien gelegt, die wir später verwenden. Und da jedes Kind unterschiedliche Erfahrungen macht, führt dies zu unterschiedlichen Fenstergrößen.

Das unfertige Gehirn

Wir Menschen kommen ziemlich unfertig auf diese Welt. Eigentlich sind wir alle Frühgeburten: Ein menschliches Baby kann sich weder alleine fortbewegen, ernähren und überleben. Auch das Gehirn eines Neugeborenen bei der Geburt nicht fertig entwickelt, d.h. die ersten Jahre sind besonders prägend. Im wahrsten Sinne des Wortes prägen und verdrahten die Erfahrungen der ersten Jahre unsere Gehirnstruktur und formen unsere “Muster”.

Grundsätzlich ist unsere Natur darauf ausgelegt, zu überleben. Und da wir in den ersten Jahren nicht alleine überleben können, sind wir auf eine Bezugsperson angewiesen, die uns Nahrung und Sicherheit bietet, unsere Bedürfnisse erfüllt und unseren Stress co-reguliert.


Ein Kleinkind in den ersten Jahren hat selbst keine Möglichkeit, seinen Stress zu regulieren, auch deswegen ist es auf die Unterstützung einer Bezugsperson angewiesen.


Wenn ein Kleinkind wiederholt in stressigen Situationen alleine gelassen wird, empfindet es diese Situationen als bedrohlich und erlebt eine grosse Hilflosigkeit. Es kann sich ja noch nicht verständlich ausdrücken. (Es kann nur schreien - und schreien wird oft nicht richtig interpretiert). In dieser Stresssituation wird dann der Flight-or-Fight-Mechanismus aktiviert, ohne dass Flucht oder Kampf eine Option darstellen. Das Baby hat dann keine Möglichkeit, die mobilisierte Energie wieder abzubauen, daher kann es zu einem “Freeze” kommen. Diese Notlösung kann als "Bewältigungsstrategie" im Gehirn verankert werden und von Gefühlen der Ohnmacht und des "Abgeschnittenseins" begleitet sein.


Wenn ein Kind häufig unkontrollierbare Stresssituationen ohne Unterstützung erlebt, kann dies dazu führen, dass das Stress-Toleranzfenster kleiner bzw. schmaler wird.

Erziehungstrends …

Das Wissen aus der Hirnforschung ist heutzutage natürlich größer als vor einigen Jahrzehnten. Aus heutiger Perspektive können wir daher nur ahnen, was möglicherweise in der Vergangenheit durch unglückliche Erziehungstrends schief gelaufen ist.


Möglicherweise wurden wir als Babys alleine im Nebenzimmer schreien gelassen, um uns nicht zu "verziehen". Möglicherweise wurde aus dem gleichen Grund auch großzügig auf "zu viel" Aufmerksamkeit verzichtet. Hauptsache, das Kind war pflegeleicht.


Vielleicht mussten wir eine Zeit alleine im Krankenhaus verbringen oder hatten eine Bezugsperson, die wiederum durch traumatisierte (Kriegs-)Eltern nur ein schmales Toleranzfenster mit auf den Weg bekommen hat. Und möglicherweise haben wir flächendeckend einen verkrampften Umgang mit unseren Emotionen gelernt, denn thematisiert wurden Emotionen früher eher selten. Stell dich nicht so an. Heul doch nicht. Reiss dich zusammen. Ich bin enttäuscht.

Harry Harlow's Affen-Studie

Der Psychologe Harry Harlow führte in den 1950er Jahren eine Reihe von Studien bei Affen zum Thema Sozialverhalten und zur Bedeutung der Mutter-Kind Bindung durch. Zu diesem Zweck trennte er Baby-Affen von ihren Eltern und bot ihnen verschiedene Attrappen als “Ersatzmutter” an: Eine “Drahtmutter”, die Milch gab und eine aus flauschigem Stoff bespannte “Stoffmutter”, die keinerlei nahrungsgebende Funktion hatte.


In den Experimenten wurde deutlich, dass die Affenjungen die Drahtmutter nur zur Nahrungsaufnahme aufsuchten und ansonsten die Stoffmutter bevorzugten. Die meiste Zeit blieben sie eng an die flauschige Stoffmutter gekuschelt. Dadurch wurde das starke Bedürfnis nach emotionaler Nähe deutlich, das weit über das Nahrungs-Bedürfnis hinausging. Es zeigte sich, dass junge Affen, die früh isoliert wurden, häufig unter schweren Verhaltensstörungen litten und desinteressiert, apathisch und ängstlich wurden.


Ein Videomitschnitt des Experiments zeigt folgende Situation: Ein junger Affe wird allein in einen fremden Raum gesetzt. Er hat offensichtlich Angst und kauert überfordert in einer Ecke.
Wenn dem Affen jedoch eine Stoffmutter zur Verfügung gestellt wird, rennt er zu ihr und bleibt in ihrer Nähe. Dort beruhigt er sich, löst sich nach einer Weile von ihr und erkundet daraufhin den Raum.


Die reine Anwesenheit einer Stoffmutter hat dem Affen ein Gefühl von Sicherheit vermittelt, das ihm die Entdeckung der Umgebung ermöglicht. No (Cloth-)Mother, no Exploration.

Selbstregulation

Das Affenexperiment zeigt, wie das Fehlen einer (Stoff-)Mutter zu Verhaltensauffälligkeiten führen kann: Affen ohne Stoffmutter konnten offenbar nicht lernen, ihren Stress selbst zu regulieren. Das lässt erahnen, welchen Einfluss es auf uns als Babys hat, wenn emotionale Bedürfnisse nicht gestillt werden oder wenn Stress nicht von der Mutter co-reguliert werden kann.

Selbstregulation ist die Fähigkeit, auf sich selbst Einfluss zu nehmen, ohne Emotionen zu unterdrücken.


Doch auch wenn wir als Kinder keine gute Selbstregulation gelernt haben, können wir sie später noch lernen. Mit Hilfe der Selbstregulation können wir unser Nervensystem beeinflussen, Emotionen steuern und Impulse kontrollieren. Fehlt uns diese Fähigkeit, kann es passieren, dass wir ständig über- oder untererregt sind oder zwischen beiden Polen hin und her pendeln. Wir haben dann nur ein sehr kleines Toleranzfenster, das wir regelmäßig überschreiten.


Fazit: Wir brauchen die Fähigkeit zur Selbstregulation um Herr und Frau über unser Leben zu sein und gesund zu bleiben.

So what: Selbstregulation lernen

Selbstregulation ist also essentiell. Das Gute: Es gibt einige Möglichkeiten, sich selbst zu regulieren und das Fenster der Stresstoleranz wieder zu vergrößern.
Hier sind einige Tipps:

#1 Verbundenheit ist der Schlüssel

  • Verbundenheit ist der Schlüssel! Auch wenn es banal klingt: Verbundenheit bringt unser Nervensystem wieder in Balance.

  • Verbunden fühlen wir uns, wenn wir mit wohlwollenden Personen, Freunden, Familienmitgliedern oder Coaches sprechen.

  • … wenn wir uns mit Tieren zu umgeben, z.B. einen Vogel beobachten oder mit Haustieren “reden”.

  • … Musik oder ein beruhigendes, emphatisches Video hören.

#2 Uns besser kennenlernen

  • Wir können uns besser kennenlernen und unsere Stressoren, Muster und Bedürfnisse herausfinden. Wir können wieder lernen, darauf zu hören, wie wir uns (wirklich) fühlen und was wir fühlen.

  • Beispielsweise kommt es häufig vor, dass wir verlernen, auf unser Hungergefühl zu achten oder erst nach Stunden bemerken, dass unser Rücken vom langen Sitzen schmerzt. Unsere aktuellen Bedürfnisse und erlernten Verhaltensmuster sind uns oft nicht bewusst. Wir merken oft nicht, welche Knöpfedrücker uns rasend machen (und warum). Wenn uns diese klar werden, haben wir die Möglichkeit, an ihnen zu arbeiten und sie zu verändern.

#3 Atmen

  • AUSATMEN. Die Faustregel bei Stress lautet: Länger aus- als einatmen. Langsames und tiefes (Aus-) Atmen kann dazu beitragen, den Parasympathikus (der Teil des autonomen Nervensystems, der für Entspannung und Ruhe zuständig ist) zu aktivieren und den Fight-or-Flight-Mechanismus zu reduzieren.

  • Das längere Ausatmen signalisiert dem Nervensystem sinngemäss: "Ok, du hechelst ja gar nicht mehr so aufgeregt, dann hat sich die Situation offenbar entspannt."

  • Physiological sigh (physiologischer Seufzer): Doppeltes Einatmen, langes Ausatmen. Es funktioniert ähnlich wie beim Seufzen und Schluchzen: Du atmest ein, doch bevor du den Gipfel erreichst, atmest du noch einmal (kurz) ein. Dann atmest du lange aus.
    Dies ist laut Neurowissenschaftler Andrew Huberman eine sehr wirksame Methode bei Stress.

  • Bauchatmung: Hände auf den Bauch legen und tief in den Bauch ein-und ausatmen.

  • Job-Tipp: Um dich nach einem stressigen Meeting wieder zu sammeln, stell beide Füße auf den Boden (auch im Sitzen möglich) und atme tief aus. Stell dir dabei vor, wie du negative Vibes durch das Ausatmen abgleiten lässt - ähnlich wie bei einer Erdung mit einem Blitzableiter.

  • Panoramablick: Der Blick wird unscharf und weit: Lass deinen Blick in die Weite schweifen. So kannst du den Blick weiten (und bis an den Rand des eigenen Blickfelds sehen).

#4 Be gentle with youself

  • Ja, wir dürfen wohlwollend uns selbst gegenüber sein!
    Wir dürfen milde und großzügig und emphatisch mit uns selbst umgehen. Wir dürfen in jedem Fall für uns selbst einstehen!
    Wir dürfen unsere Grenzen ziehen.
    Wir dürften nicht nur andere, sondern auch uns selbst wichtig nehmen!
    Wir dürfen “nein” sagen, wenn wir zu viel auf dem Teller haben.

    Selfcompassion is the new black.


#5 It´s a classic: Move, Sleep, Eat healthy

  • Wir wissen es ja, aber weil wir oft Umsetzungszwerge sind, gibt´s einen Reminder: Angemessene Bewegung, Schlaf und gesunde Ernährung bauen Stresshormone ab! Ein Plus sind Entspannungstechniken wie z.B. die progressive Muskelentspannung.

“Staying vulnerable is a risk we have to take if we want to experience connection.”
Brené Brown

Verletzlichkeit ist das Risiko, das wir für Verbundenheit eingehen müssen .. doch es lohnt sich!

Exkurs: “Strange Situation Test” von Mary Ainsworth


Ein fremder Raum, eine Mutter, ihr Kleinkind.
Die Mutter verlässt kurzzeitig den Raum und kehrt wieder zurück. Wie reagiert das Kleinkind?
Es lassen sich grundsätzlich drei unterschiedliche Reaktionen beobachten:

  1. Das Kind spielt einfach weiter.

  2. Das Kind weint und lässt sich nach Wiederkehr der Mutter schnell von ihr beruhigen.

  3. Das Kind weint sehr und lässt sich von der Mutter nur schwer beruhigen.

Welches Kleinkind erlebt den größten Stress?

Das weiterspielende Kind hat das größte Stresserleben (Fall 1). Es ist nicht etwa “besonders selbstständig” sondern es unterdrückt seine Emotionen.


Der psychologische “Strange Situation Test” von Mary Ainsworth kann bereits erste Hinweise auf unser späteres Stressverhalten liefern. Die normale (gesündere) Reaktion ist das weinende Kinde (Fall 2).
Dieser Test wird typischerweise bei Kindern im Alter von etwa 12 bis 18 Monaten durchgeführt. Die Darstellung des Tests ist stark vereinfacht.


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Literaturempfehlung:

Literatur zu diesen Inhalten finden sich oft unter dem Begriff Entwicklungstrauma. Dabei ist zu beachten, dass es sich hierbei nicht um ein akutes Schocktrauma handelt. Ein Entwicklungstrauma kann durch wiederholte negative Erfahrungen im Kindesalter entstehen.

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